Nicht jeder kann einen weltbedeutenden Vertreter der Hochliteratur und Nobelpreisträger zugleich einen Heimat-Dichter nennen. Wir Friedrichshagener können das — mit einiger, nicht nur gefühlsmäßiger, Berechtigung — tun. Gerhart Hauptmanns wegen. Unsere schöne märkische Heimat ist es gewesen, die ihm, dem großen Naturalisten, die ersten Stoffe lieferte.
Der aus Schlesien stammende, bereits im Kindesalter als „fabulierfreudig“ bekannte Gerhard, damals noch mit d, entwickelte schon als Schüler eine Abneigung gegen Härte, Zwänge und Anforderungen seiner wilhelminischen Gegenwart. In der Realschule, die er ab 1874 in Breslau besuchte, schloss er sich einem Jünglingsbund an, der utopische Pläne zur Schaffung einer zwanglosen, freien Gesellschaftsordnung schmiedete und dessen Leitsatz „Rückkehr zur Natur!“ wohl den ersten Keim säte zur späteren Ansiedlung in unseren Gefilden. Nach begonnener Ausbildung zum Landwirt, der er körperlich nicht gewachsen war und während derer sich der junge Hauptmann ein Lungenleiden zuzog, das ihn lebenslang plagen sollte, mehrerer abgebrochener Studien und der Heirat mit der begüterten Marie Thienemann, zog er erst nach Berlin-Moabit, und endlich — auf Anraten seiner Ärzte, da er, der Lungenkranke, die Großstadtluft nicht vertrug — nach Erkner! Zurück in die Natur!
Erkner ist 1885, als die jungen Eheleute in die Villa Lassen südlich des Flakensees einziehen, ein ländlicher, 2000 Seelen zählender Ort ohne elektrischen Strom, in dem zwei Drittel der Einwohner „Schiffer“ als Beruf des Familienoberhauptes angeben. Wegen dieser etwas furchteinflößenden Abgelegenheit schafft Hauptmann sich Hunde an und nimmt die von ihm so genannten „Produktivspaziergänge“ auf, eine tägliche Routine, die er auf Lebenszeit beibehalten wird. In den folgenden vier erkneraner Jahren findet der Anfang Zwanzigjährige zu seiner Bestimmung als Autor und in Landschaft und Leuten eine reiche Quelle der Inspiration.
Das Verhängnis des „Bahnwärters Thiel“ nimmt im märkischen Kiefernforst an der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahnlinie, heute S3, zwischen Friedrichshagen und Erkner seinen tragischen Verlauf.
Die Dramen „Vor Sonnenaufgang“ (das wegen der unverhohlenen Thematisierung von Sex und Alkoholismus einen der größten Skandale der deutschen Theatergeschichte auslösen wird) und „Das Friedensfest“ entstehen hier „Einsame Menschen“ wohnen in einem Landhaus am Müggelsee, in welchem zumindest einer von ihnen sein kühles Grab findet.
Eine wahrhaft tragende (!) Rolle spielt jedoch ein anderer See bereits im Erstlingswerk „Fasching“, das noch vor dem „Bahnwärter“ 1887 entsteht: der Flakensee, welcher quasi direkt vor Hauptmanns Haustür liegt. Hierin zeigt sich der Schriftsteller bereits als der meisterhafte Naturalist und Dramatiker, als der er später zu Recht gerühmt werden wird, obwohl kleine Schwächen, wie Logikfehler und nicht konsequent verwendeter Dialekt, seine Unerfahrenheit als Autor offenbaren. Als Grundlage für diese frühe Novelle dient ihm ein schrecklicher Unglücksfall, der sich kurz vorher tatsächlich hier ereignete. In „Fasching“ lotet Hauptmann die Grenze aus zwischen Lebenslust und Vergnügungssucht. Hier beschäftigt ihn zum ersten Mal der an der eigenen Triebhaftigkeit zugrunde gehende Mensch, der zeitlebens eines seiner zentralen Themen bleiben wird.
Obwohl ich es schon mehrfach gelesen habe, halte ich auf den letzten Seiten immer noch vor Spannung den Atem an. Bereits der erste Satz, so scheint mir, lässt Dramatisches erahnen: „Segelmacher Kielblock war seit einem Jahr verheiratet.“. Noch einige Male scheint im Text bedrohlich die Katastrophe auf. Und ebenso verlässlich begleitet mich im Geiste das grausige Schicksal des Segelmachers Kielblock, wenn ich am winterlichen Flakensee spazieren gehe und mein Auge sucht die fatale Stelle, wo die Löcknitz in den See mündet. Nichts mehr ist hier verschlafen und ländlich; auf der Friedrichstraße braust der Verkehr. Die Villa Lassen beherbergt heute das Gerhart-Hauptmann-Museum, auch die Straße in der es liegt, ist nach ihm benannt.
Der Leiter des Museums Stefan Rohlfs gibt seit 2020 gemeinsam mit der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft e.V. und seiner Mitarbeiterin Lina Langelüttich im Quintus-Verlag die Erkneraner Ausgabe heraus, wo in loser Folge Werke Hauptmanns erscheinen werden. Den Auftakt dieser Reihe bildet der Band „Fasching“, der nicht nur zeitlich an den Anfang gehört, sondern worin Erkner auch den eisigen föhrenumstandenen Schauplatz abgibt. Hochwertig ausgestattet mit den reproduzierten Original-Illustrationen von Alfred Kubin, die schon die erste Buch-Ausgabe von 1925 schmückten, bildet der schöne Band einen würdigen Anfang.
Wenn ich derzeit durch den schmutzig-nassen Schneematsch patsche und sich mir ein ums andere Mal die Frage aufdrängt, ob so klirrend kalte Winter wie zu Hauptmanns Lebzeiten, endgültig der Vergangenheit angehören, so gilt wenigstens Eines ewig: das Arbeitsmotto des hochgeschätzten Autors „nulla dies sine linea — Kein Tag ohne Zeile“ umso mehr für uns als Leser.