„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Der einleitende Satz des Romans „Der Proceß“ aus dem Nachlass Franz Kafkas klingt zwar wie ein Schuldeingeständnis, der Bankbeamte Josef K. jedoch hält sich für unschuldig und so tritt er den zwei Gerichtsboten, die an diesem Morgen seines dreißigsten Geburtstags in seinem Zimmer erscheinen, um ihn zu verhaften, mit gehörigem Unverständnis entgegen. „Das Verfahren ist nun mal eingeleitet und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren.“
Im Zimmer seiner Nachbarin Fräulein Brüstner wird K. dem Aufseher vorgeführt, der ihm mitteilt: „[…] Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll sie nicht hindern, ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.“ Die Atmosphäre ist gedrängt – jede Bewegung scheint die zarten personalen Grenzen gewaltsam einzureißen. Die Gerichtsbeamten verhalten sich indiskret, überheblich und respektlos. Für K.s Unverständnis –„ Wie kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese Weise?“ – haben die Beamten nur Spott übrig: „Er kenne das Gesetz nicht und behauptet gleichzeitig schuldlos zu sein.“
Welches Gericht klangt K. an? Welchen Vergehens wird er angeklagt? Nichts davon – der Leser bleibt im Ungewissen – und auch wenn K. zu Beginn seines Prozess noch glaubt, es hier mit einem Missverständnis zu tun zu haben, gibt er sich der nun folgenden Maschinerie nahtlos hin – denn die Behörde „sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen“. Schnell wird deutlich, wir haben es hier nicht mit einer irdischen Gerichtsbarkeit zu tun – eine Allegorie also? „Der Prozeß, der da geführt wird“, schrieb Max Brod, „ist der ewige Prozeß, den ein zart empfindender Mensch mit seinem Gewissen auszufechten hat. Held K. steht vor seinen innern Richtern. Das gespenstische Verfahren vollzieht sich an den unscheinbarsten Schauplätzen und so, daß scheinbar K. immer recht hat. Ganz ebenso sind wir rechthaberisch gegen unser Gewissen und versuchen, es zu bagatellisieren. Das Besondere ist nur die fatale Feinfühligkeit gegen die innere Stimme, die auf Schritt und Tritt immer lebendiger wird.“
K. geht also zu den Verhören, wenn auch nur widerwillig lässt er sich durch den Onkel einen Anwalt beschaffen, sucht selbstständig den Maler auf, um sich beraten zu lassen und kümmert sich nun auch um andere Anwälte, die seine Sache besser vertreten können. Die erste Untersuchung findet in der hintersten Ecke auf einem Dachboden eines Vorstadthauses statt – und allein K.s Erscheinen unter diesen widrigen Umständen wird ganz leise zu einem Zugeständnis der Schuld: „Schließlich stieg er doch die erste Treppe hinauf und spielte in Gedanken mit einer Erinnerung […], daß das Gericht von der Schuld angezogen werden, woraus eigentlich folgte, daß das Untersuchungszimmer an der Treppe liegen mußte, die K. zufällig wählte.“ Folgen wir den Worten Brods, haben wir es hier also mit einem inneren Prozess zu tun, artikuliert im Vokabular der Judikative: „Die Schuld ist immer zweifellos.“ („In der Strafkolonie“) Man könnte sich jetzt psychoanalytischer Deutungsschemata bedienen, aber damit würde man die eigentliche Leistung dieses Autors verkennen: Die Bewegungen Josef K.s – wie ihm jeder Raum, jeder Lebensumstand zum Teil dieses Verfahrens, zum Teil dieses Gerichts, ja dieser Gerechtigkeit wird – „Es gehört ja alles zum Gericht“ – sind keinem dunklen Traum entsponnen – hierin artikuliert sich eine intersubjektive Schuld, deren Anklage notwendig ist. Kafka kehrt diesen immanenten Prozess nach außen; denn wie jedes Moment unserer Subjektivität braucht auch dieses die äußere Anerkennung, um sich selbst bestimmen zu können. K. erkennt selbst: „Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht. […] Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht verliert. Zum Schluß aber zieht es von irgendwoher, wo ursprünglich gar nichts gewesen ist, eine große Schuld hervor. “ Der gesamte Prozess vollzieht sich als ein Symbol für die innere Gerichtsbarkeit, die in sich unlogisch sein muss, nimmt sich das Subjekt als Mittelpunkt der Welt und gründet so diesen inneren Maßstab – ein Maßstab, der das Subjekt vor der Außenwelt zwangsläufig scheitern macht. Der Maler eröffnet K., es gäbe nur drei Möglichkeiten, neben der Verurteilung, „nämlich die wirkliche Freisprechung“ – ein äußerst unwahrscheinlicher Ausgang, wurden bisher doch nur sehr, sehr wenige Angeklagte wirklich freigesprochen – „die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung“. Das Gericht, seine Funktionsweisen und Hierarchien bleiben K. ewig fremd – mit jedem Moment, in welchem er glaubt, etwas begriffen zu haben, öffnet sich eine neue Tür, ein neues Mysterium. K. bleibt vor dem Gericht unwissend und entmachtet zurück; seine ganze Person, sein Umfeld, sein Leben werden durch das Gericht und seinen Prozess untermauert, durchtränkt.
Die wohl entschiedenste Stelle dieses Romanfragments stellt das Kapitel „Im Dom“ dar. Dieses Kapitel enthält die kurze Erzählung „Vor dem Gesetz“, die Kafka noch zu Lebzeiten veröffentlichen ließ und im Roman eine Parabel darstellt, die K. durch den Gefängniskaplan empfängt. Ein Mann vom Lande erbittet beim Türhüter vor dem Gesetz Einlass in eben jenes. Der Türhüter gewährt ihm diese Bitte nicht, jedoch offeriert er ihm in uneindeutigen Reden, es bestünde die Möglichkeit eines späteren Einlasses. Es vergehen viele Jahre bis hin zum Tode des Mannes, der mit seinem letzten Atemzug durch den Türhüter erfährt: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ Wie der Mann vom Lande, so sucht auch K. nach der Ordnung, nach den Regeln und Maßnahmen, die ihm einen Zugang zu dem Gericht und seinem Prozess erlauben und enthebt sich somit einer eigenen Verantwortlichkeit, tritt diese gewissermaßen an ein äußere, unpersönliche Instanz ab, wohingegen diese, verstanden als Spiegel der inneren Gerichtsbarkeit, nach der Autonomie des Subjekts sucht. Verstrickt in diesen inneren Zirkel von Verlangen nach Autonomie und Übertragung eben jener auf eine äußere Struktur, kann das Subjekt nur scheitern. Und ja: K. scheitert.