Im frühen Herbst des Jahres 1937 plant die TOBIS Filmkunst GmbH ein neues Projekt, nämlich dem Filmstar Emil Jannings, welcher schon länger Ausschau nach einer passenden Hauptrolle hält, diese Rolle maßgeschneidert auf den Leib schreiben zu lassen und tritt zu diesem Zweck in Verhandlungen mit dem Verleger Ernst Rowohlt. „Ein verfilmbarer Roman“ soll es werden, über „ein deutsches Schicksal“ einer „deutschen Familie von 1914 bis etwa 1933“. Schreiben soll ihn der in dieser Zeit äußerst beliebte Autor Hans Fallada, über den Joseph Goebbels nach der Lektüre des kürzlich erschienenen „Wolf unter Wölfen“ in sein Tagebuch schreibt: „Der Junge kann was!“ Fallada ist von diesem Lob nicht besonders angetan und notiert wiederum etwas bedrückt: “In die Sonne Goebbels’scher Gunst zu kommen — das scheint mir ein Ikarus-Schicksal.“ Die Verhandlungen finden Ende Oktober 1937 in Jannings‘ Suite im schmucken Berliner Hotel Kaiserhof statt. Fallada fand: „Die Besprechungen waren langweilig, aber sie gaben mir Gelegenheit, den Menschen E.J. ein wenig näher kennenzulernen, und das machte mir aufrichtiges Vergnügen!“ Jannings begeistert sich für die Figur des Berliner Droschkenkutschers Gustav Hartmann, der in den vergangenen Jahren Schlagzeilen als „Eiserner Gustav“ gemacht hatte, und schlägt dies als Titel vor. Man einigt sich auf die stolze Summe von 30 000 Reichsmark allein für die Verfilmung, zusätzlich zu den Einkünften aus den Buchverkäufen, aber auch auf ein sehr rasches Abgabedatum: 28. Februar 1938. (mehr …)
Was ist eigentlich eine Buchhandlung?
Die Kulturstaatsministerin nimmt 20 Millionen Euro in die Hand, um den „Neustart Kultur“ in der Buchbranche zu bewerkstelligen. Unter einem Neustart (auch englisch Reboot oder Restart genannt) eines Rechnersystems (Computer) versteht man das erneute Hochfahren (Booten) des Rechners, wenn dieser bereits eingeschaltet ist. Ein Neustart wird auch Warmstart genannt, entnehme ich Wikipedia. Die Buchbranche gilt als systemrelevant, und klar wird aus den Förderrichtlinien, dass es sich bei dem System um ein Rechnersystem handelt:
Buchhandlungen mit Sitz oder Niederlassung in Deutschland erhalten Unterstützung für die Digitalisierung ihrer Vertriebswege – von der Anschaffung zeitgemäßer Hardware über die Einrichtung eines benutzerfreundlichen Webshops bis zu entsprechenden Fortbildungen. Alle Buchhandlungen mit maximal 2 Millionen Euro Umsatz im letzten Geschäftsjahr dürfen sich um die Förderung bewerben, vorausgesetzt ihr Gesamtumsatz setzt sich zu mindestens 50% aus dem Verkauf von Büchern zusammen.
Der größte Buchhändler in Deutschland heißt Amazon. Allerdings gibt es hierzulande auch kleinere Geschäfte, die sich zwar Buchhandlungen nennen, ihren Profit jedoch nicht hauptsächlich mit dem Verkauf von Büchern erzielen.
Was ist eigentlich eine Buchhandlung? Die Antwort bringt mir ein Buch, in dem der Romanautor von seinem Antrieb, eine Bar zu eröffnen, schreibt:
Es kann nicht sein, dass wir unsere gesamte Lebenszeit in keimfreien Büros und keimfreien Fitnessstudios, keimfreien S-Bahnen und keimfreien Wohnzellen zubringen, und es darf nicht soweit kommen, dass die Menschen einander nur noch im Internet begegnen. In einem lebendigen Gemeinwesen müssen die Menschen sich an einem physischen Ort frei begegnen können, man sollte seine Freunde nicht nur bei Facebook haben, und auch in Zukunft wird es Orte geben müssen, an denen wir unseren Tanz tanzen und unsere Lieder singen können in der knappen Zeit, die uns beschieden ist.
Ich wünsche der Kulturstaatsministerin, sie möge nicht nur an Ihrem Rechner sitzen, sondern sich auch einmal von einem Buch überraschen lassen. Das Buch, das ich in der Hand habe, heißt Das Leben ist gut, Alex Capus hat es verfasst.
Das Leben in seiner ganzen Fülle
Abschiedsfarben heißt (nach Sommerlügen und Liebesfluchten) der neue Geschichtenband von Bernhard Schlink, und diese Farben sind alles andere als düster. Sein Olga-Roman hatte mich zuletzt formal nicht überzeugt, nun aber erkenne ich Schlink als unaufgeregten Autor in seiner schnörkellosen Sprache wieder. Der 75-Jährige vermag es, wie sonst eigentlich nur die großen Zeitgenossen der nordamerikanischen Literatur, in der Kurzgeschichte eine gesellschaftliche Symptomatik erkennen zu lassen, ohne jemals aufdringlich zu wirken. (Na gut, die Sex-Szenen erscheinen schablonenhaft, aber das ging mir bei James Salter auch schon so …)
Das Leid des Einzelnen geht im Leid der Welt nicht auf, das Unvorhersehbare ist es, was uns das Leben in seiner ganzen Fülle spüren lässt. (mehr …)
Eine musikalische Europareise
Die Nachbarsfamilie ist verreist und der Garten verwaist. Daher ist heute genug Platz für eine große Menge von Menschen, die ich zu einer Abendveranstaltung eingeladen habe. Ein Wunder: der Regen hat während dieser Stunde eine Pause eingelegt.
Katja Beisch hat verschiedene Blockflöten mitgebracht, Anke Böttger das Barockcello und die Viola da gamba. Die beiden weitgereisten Künstlerinnen, die zur Zeit nicht auf Konzerttournee gehen können, haben uns zu einer Europareise durch Frankreich, England, Holland und Deutschland verführt. Besonders hat es mir die Suite in e-moll von Matthew Locke angetan, von dem ich nie zuvor etwas gehört habe.
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Lesen hält wach
In Ozeanien heißt die vorherrschende Philosophie Engsoz, in Eurasien heißt sie Neo-Bolschewismus, und in Ostasien trägt sie einen chinesischen Namen, der gewöhnlich mit Todes-Kult übersetzt wird, sich aber vielleicht treffender als „Auslöschung des Ich“ wiedergeben ließe. Der Bürger Ozeaniens darf nichts von den Leitsätzen der beiden anderen Philosophien wissen, sondern man lehrt ihn, sie als barbarischen Frevel an der Moral und dem gesunden Menschenverstand zu verabscheuen. In Wahrheit unterscheiden sich die drei Philosophien kaum, und die Gesellschaftssysteme, die von ihnen gestützt werden, unterscheiden sich überhaupt nicht.
Das sind Sätze aus einem Ullstein-Taschenbuch, das immer in meiner Buchhandlung liegt, immer wieder gekauft und hoffentlich dann auch wirklich gelesen wird.
Es handelt sich um „1984“ von George Orwell, der heute vor 117 Jahren geboren wurde. Er schrieb diesen Roman 1948, also 36 Jahre vor dem Jahr, in dem seine Geschichte stattfindet. Nun sind weitere 36 Jahre vergangen und das Buch handelt immer noch und wieder von der Gegenwart.
Der Briefschreiber Marcel Reich-Ranicki
Heute wäre Marcel Reich-Ranicki 100 Jahre alt geworden, und aus diesem Anlass brachte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vorgestern ein paar bislang unveröffentlichte Briefe an Schriftsteller, die das Temperament des Chefkritikers der deutschsprachigen Literatur zu spüren bekommen haben. Thomas Anz, der Reich-Ranickis Nachlass verwaltet, lässt anklingen, dass die noch ausstehenden Editionen seiner Briefwechsel etwa mit Günter Grass und Martin Walser mehrere Bände füllen könnten.
Auch ich besitze einen Brief von Marcel Reich-Ranicki! Mein gesamter Briefwechsel mit ihm umfasst allerdings nur wenige Zeilen, welche die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vor mehr als sieben Jahren abgedruckt hat: Sie können auf diesen Seiten meinen Beitrag dazu lesen!
„Auf Goethe sollten Sie natürlich nicht verzichten“, riet mir Reich-Ranicki also, und so habe ich immer den West-östlichen Divan im Laden stehen, aus dem ich gerne (ausnahmsweise ohne Mundschutz) rezitiere:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: / Die Luft einziehn, sich ihrer entladen; / Jenes bedrängt, dieses erfrischt; / So wunderbar ist das Leben gemischt.
Ein Geisterspiel
Liebe Kinder, gebt gut 8, was der Buchhändler euch sacht: heute Nachmittag halb4, schauen in das Buch hier wir, welches Antje Kunstmann brachte, weil es Nadia Budde machte:
Daraus, blaugelbrot maskiert, eine Geister11 anstiert uns und seufzt mit schrägen Stimmen und lässt ihre Augen glimmen.
Gemalt mit breitem Pinselstrich ist es und tut reimen sich: Wenn am Ende nicht die Bayern sich als Geistermeister feiern, stimmt das Buch uns froh und heiter. Gern empfehlen wir es weiter.
We will meat again
Ich gehe gar nicht raus, wissen Se, in meinem Alter ist man Risiko. Jetzt nervt also auch noch die olle Renate Bergmann mit ihren Durchhalteparolen: Auch in der schweren Zeit nach dem Krieg konnten wir nicht sagen: „Ich gehe mal schnell los und hole Rindsfilet“, sondern man musste gucken, was man dahatte und daraus was zaubern.
Also mir ist dieses neue Buch der Online-Omi viel zu staatstragend, da ziehe ich mir lieber nochmal die letzten Ansprachen von Queen Elizabeth rein …
Ich lasse mich doch von einer Spandauer Rentnerin nicht bevormunden! I will meat again, also beef will ich und go to the Wirtshaus um die Ecke (Rolandseck calls it in Friedrichshagen), sobald es wieder aufmachen darf.
Und wenn ich nun doch ein Buch empfehlen soll, dann nehmen Sie irgendeines von Elizabeth, von der ist nämlich jedes ein tolles! Ich rede von Elizabeth Strout, bei der es deftig zur Sache geht, die aber auch herzzerreißende Szenen hervorzuzaubern versteht. Ich bin gerade bei Amy & Isabelle, da kommt eine liebenswerte Figur vor, die immer nur fett genannt wird und über ihre Verdauuung spricht. Und da gibt es die Episode, als Isabelle, die nichts richtig auf die Reihe kriegt, sich vor Scham verkriechen möchte, als sie in einer Buchhandlung nach Yeats fragt und ihn wie Keats ausspricht.
If yo meet me at the bookstore, dann zeige ich Ihnen also gerne alle Bücher der Strout. Falls Sie aber ein Buch der Bergmann erwerben wollen, ist es mir auch Wurst. Hauptsache: Cash kommt in die Kasse.
Die Panik der Kreatur
Es gibt Bücher, die laufen irgendwie unter dem Radar. Nicht großartig beworben, nicht vom Verlag gehypt, von der Kritik weitestgehend unbemerkt, unbesprochen, stehen sie still, unaufdringlich und bescheiden zwischen hundert anderen im Regal in der Buchhandlung und harren derer, die sie beim ziellosen Stöbern bemerken mögen, einem Impuls folgend mitnehmen und dann für immer lieben.
Einzelgänger Männlich ist ein solches Buch.
Bereits 1939 erstmals veröffentlicht und in der Folge immer mal wieder aufgelegt, ist mir seine Existenz bis zum Jahr 2018 verborgen geblieben, als ich es erstmals in die Hand nahm, angezogen, fasziniert von dem Kopf eines Mannes mit schreckgeweiteten Augen und angstvollem Blick, gemalt im Stil alter Filmplakate oder reißerischer Groschenromane, der den Umschlag des Buches ziert.
Seitdem geht dieses von mir erworbene, am Stück verschlungene – inzwischen sicher schon vollkommen zerlesene – Exemplar von Hand zu Hand, weil jeder, der es mit angehaltenem Atem an einem Abend durchgelesen hatte, es mit einem Ausruf der Begeisterung an einen Freund oder eine Freundin weitergegeben hat. (mehr …)
Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche
Die Buchbranche behauptet, dass heute der Todestag des Theaterdichters Shakespeare sei, und feiert aus diesem Anlass den Welttag des Buches.
Für mich ist das die Gelegenheit, Sie auf ein besonderes Naturschauspiel hinzuweisen, welches, wie David Rothenberg in seinem gerade bei Rowohlt erschienenen Buch bemerkt, so nur in unserer Stadt wahrzunehmen ist: Wir leben in der Hauptstadt der Nachtigallen!
Hören Sie wohl!