Der deutsche Finanzminister hat diese Woche im Bundestag eine skandalöse Äußerung getan: „Aufgrund von finanziellen Sorgen wird in diesem Land in diesem Winter niemand frieren und niemand hungern.“
Niemand — dieses Wort markiert die Abwesenden: Solche Menschen, die, weil sie über kein Geld verfügen, außerhalb der Gesellschaft leben und daher die Umstände schonungsloser erleben als die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Seit jeher nehmen sie die Kälte wahr als das, was sie ist. Viele von ihnen werden den kommenden Winter nicht überleben.
Kaum ein Buch ist mir wichtiger als das ethnofiktionale Dokument des Franzosen Marc Augé, seit der Eröffnung der Buchhandlung ist das Tagebuch eines Obdachlosen (Beck, 10,95 Euro) immer in meinem Sortiment. Darin heißt es: „Da ich niemand mehr bin, spüre ich zweifellos intensiver als Leute, die besser gestellt und tiefer in der Stadt verwurzelt sind, die absolute Zufälligkeit meiner Anwesenheit in der Stadt — und fast hätte ich gesagt: auf Erden, aber das wäre allzu metaphysisch …“
Die Obdachlosen sind der Skandal in unserer Wohlstandswelt. Sie ähneln den Krähen, die unsere Straßen bevölkern, und den Waschbären, die unsere Gärten unsicher machen. Sie sind uns Sesshaften unheimlich, aber in Wirklichkeit keine Gefahr für uns. Vielmehr sind sie die gefährdetsten Menschen überhaupt.
Wenn der Winter hart wird, kann man ja das Reichstagsgebäude zur Wärmestube umbauen. Dann wird in dieser Stadt wirklich niemand frieren und niemand hungern müssen.