Ob wir uns halten können in der Masse

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Wie schwer ein Menschenleben wiegt, so heißt das Buch von Maren Gottschalk über das kurze und doch reiche Leben der Sophie Scholl (Beck, 24 Euro). An diesem Sonntag feiern wir ihren 100. Geburtstag; heute ist die Widerstandskämpferin überall zum Vorbild für junge Frauen geworden (Good Night Stories for Rebel Girls, 100 außergewöhnliche Frauen, Hanser, 24 Euro). Olga Misik, eine 19-jährige Russin, liest der Polizei die Verfassung des Landes vor, die Staatsanwaltschaft will das mit 2 Jahren Gefängnis bestraft sehen; die Demonstrantin sagt, ihr Vorbild sei Sophie Scholl.

An Sophie Scholl, die durchaus nicht selbstsüchtig war, sondern von Selbstzweifeln geplagt den Glauben an das Gute im Menschen suchte, hat mich der weite geistige Horizont beeindruckt, den sie während ihrer kurzen Lebensdauer in sich aufnehmen konnte. Die Gerechtigkeit bedeutete ihr mehr als die Loyalität. Sie war heiter, aber auch verschlossen. Blaise Pascal las sie besonders gern, berichtet ihre Biografin: seine Logik des Herzens war ihr wesentlich.

Ein kleines Selbstportrait habe ich in dem folgenden Wort von Sophie Scholl gefunden: Aber im Grunde kommt es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet.

Das Leben ist schön und der Mensch ist nicht viel darin

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Meret Becker ist eine tolle Schauspielerin, sie liest vom Blatt: Unser Leben ist soviel schöner geworden! Wir alle sind so empathisch und fürsorglich und geben aufeinander acht, das ist so schön. 

Es ist so schön, in aller Ruhe in der Bölschestraße spazierenzugehen, wo endlich kein geschäftiges Treiben mehr herrscht. Zwischen den Pflastersteinen an der Buchhandlung macht sich der Löwenzahn breit, die Welt ist immer Lebensraum, sagt Emanuele Coccia (Die Wurzeln der Welt, dtv, 10,90 Euro), und der Mensch ist nicht viel darin. 

Der Korsch-Verlag hat gerade seine Kalender-Kollektion für 2022 auf den Markt gebracht, die Meerblicke (5,95 Euro) mit Ansichten von Nord- und Ostsee zeigen menschenleere Landschaften, einzelne Strandkörbe stehen verlassen da. Was sind das für Zeiten, wo eine Reise ans Meer fast ein Verbrechen ist.

Dass sich die Tatortdarsteller in ihre Berliner, Hamburger und Münchener Vorortvillen eingeschlossen haben, hat übrigens in Deutschland mehr Todesfälle verhindert, als die Seuche Opfer gekostet hat. Das Statistische Bundesamt teilt mit, dass im Februar und März 2021 deutlich weniger Menschen gestorben sind als im Durchschnitt der fünf Jahre zuvor. Auch die suizidale Neigung der Deutschen ist bislang nicht stärker geworden.

Was schlimm ist: nicht sterben zu können zur rechten Zeit, sondern am Leben bleibend zu verzweifeln. Gegen den Überlebensfrust schreibt die Unternehmerin Sina Trinkwalder an (Im nächsten Leben ist zu spät, Knaur, 10,99 Euro): Der Unterschied zwischen positivem und optimistischem Denken ist die Realität. …

Das Problem ist gegeben, was aber können wir daraus machen?

Eine der letzten Kundinnen riet mir neulich, den Löwenzahn zu jäten. Ich achte ihn aber und lasse ihn wachsen.

Heimweh nach der Fremde

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Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch bezeichnete einmal seine Sehnsucht nach Welt, „nach Wolken über dem offenen Meer“, als Heimweh nach der Fremde. Xenophilie heißt die Liebe zu fremden Dingen und Menschen, die wir durch Reisen erfüllen können. 

Aus der Schweiz kommt ein Buch, welches uns dazu verhelfen kann, das Eigene als Fremdes wahrzunehmen. Der Reiseführer des Zufalls bietet zahllose Anregungen zum spontanen Verreisen. Er ist in jeder Stadt der Welt anwendbar.

Wie aufregend es ist, in der eigenen Stadt unterwegs zu sein und die Muster der Fassaden wahrzunehmen, Spiele von Licht und Schatten und eine Unmenge von Gegenständen, die achtlos weggeworfen scheinen!

„Finde etwas und erfinde eine abenteuerliche Geschichte dazu“, heißt ein Hinweis aus diesem Buch. Und denke daran, dass du zufällig hier bist.

Kaffee und Tee und Tiger und Bär

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Heute wird der Künstler, der sich Janosch nennt, runde neunzig Jahre alt! Endlich ist er ein Klassiker, und zwar Klassiker in Gelb, wie der Reclam-Verlag wirbt. In der Universal-Bibliothek ist nämlich für 6,00 Euro die komplette Wondrak-Kolumne erschienen, die er für das ZEITmagazin gestaltet hat. Es ist eine kleine Wundertüte voller Lebensweisheiten:

Herr Janosch, was ist besser, Kaffee oder Tee?

Tee ist gut für das Denken. Aus dem Denken entstanden die entscheidenden Irrtümer der Menschheit. Also Kaffee.

Eine geballte Ladung an Lebenssinn und Unsinn bietet das dicke Buch Ach, so schön ist Panama! Das ist der vom Beltz-Verlag herausgegebene Sammelband mit allen Tiger-und-Bär-Geschichten für 15,95 Euro:

Uns piekt nichts. Ein Tiger ist ein Tiger, und ein Bär ist ein Bär.

Alles lecker

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Walter Kempowski, ein Meister der Sottisen, vertraute am 9. März 1991 in Nartum seinem Tagebuch an: Wegen „Sonnabend“ und „tschüs“ hassen uns die Süddeutschen. Gegen „gell“ habe ich nichts. Bei „lecker“ scheiden sich die Geister. 

Was zu der Frage führen mag, ob in Norddeutschland kein Hafer mehr wächst. Stefan Gärtner hat einmal Hafermilch probiert, die aus „lokalem Anbau“ italienischer Bio-Landwirtschaft herbeigekarrt wurde; die ist, steht auf der Packung, „für dich, für die Umwelt, für den leckeren Geschmack“. Er nimmt dann das Wort „lecker“ zum Anlass einer Analyse zeitgenössischen Sprachgebrauchs: weil sie so schön nach Kindermund und -seligkeit klingen,  sind diese zwei Silben der Konsumdemokratie zugeeignet, der wir uns tagtäglich beigeben. Akklamation ist der Grund der Terrorsprache, welche Gärtner in seinem Wörterbuch des modernen Unmenschen unter die Lupe nimmt. 

Wie wir uns (im wahrsten Sinne des Wortes) entmündigen, indem wir uns die Werbesprache zueigen machen, zeigt der Autor an weiteren Beispielen von „Alles gut“ bis „zeitnah“. Wenn ich „wir“ sage, mache ich schließlich Reklame für dieses reizvolle Buch.

Nun sage ich, denn ich bin ein Kind des Schwabenlandes, „tschüssle“ und auf Wiedersehen in meinem Buchladen, in dem ich Ihnen Gärtners Buch „gerne“ verkaufe. 

Das Gefühl meiner Winzigkeit

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Was ich lese? Hauptsächlich Naturwissenschaftliches: Gestern las ich gerade über die Ursachen des Schwindens der Singvögel in Deutschland. (Das war vor mehr als 100 Jahren schon ein Thema.) Es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden — Schritt für Schritt vernichten.

Die Autorin dieser Zeilen ist berühmt als Kämpferin für die sozialen Rechte der unterdrückten Menschen. Weniger bekannt ist, wie sehr sie alles Lebendige, in dem wir geborgen sind, bekümmert hat.

Nicht um den Gesang für den Menschen ist es mir, sondern das Bild des stillen, unaufhaltsamen Untergangs dieser wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, dass ich weinen muss.

Ich lese Rosa Luxemburg, die heute vor 150 Jahren geboren wurde. Als Naturkundlerin begegnet sie uns in ihrem Herbarium. Sie hat Pflanzen gesammelt, wo sie ging und stand, in der Freiheit wie im Gefängnis, und damit insgesamt 16 Schulhefte gefüllt, deren Inhalt vom Karl-Dietz-Verlag kürzlich komplett veröffentlicht worden ist.

Aus dem Gefängnis schrieb sie einmal an Luise Kautsky:

Ich besuche jeden Tag ein rotes Marienkäferlein mit zwei schwarzen Punkten auf dem Rücken, und — fühle mich im ganzen nicht wichtiger als dieses Marienkäferlein und in diesem Gefühl meiner Winzigkeit unaussprechlich glücklich.

Warum Friseure öffnen können

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Jeden Abend auf dem Heimweg, lese ich in Bohumil Hrabals „Ich habe den englischen König bedient“, grübelte ich, unterhielt mich mit mir selbst, erzählte mir von neuem, was ich an diesem Tag alles gesagt oder getan hatte, und fragte mich, ob ich es richtig gesagt oder getan hatte, und ich erkannte nur das als richtig an, was mich amüsiert hatte. Darin steckt die Idee, dass die Welt, selbst wenn sie schlecht ist, mir nicht schlecht bekommen muss, dass ich also vom Verderblichen mich nicht verderben zu lassen habe.

Warum dürfen Friseure öffnen und ich nicht, klagt eine Geschäftsfrau in der Bölschestraße und unterwirft sich dem Sachzwang, den sie bekämpfen möchte.

Dem Büchermenschen, der sich in der Literatur spiegeln kann, hilft gegen die falsche Wirklichkeit die Poesie. Sie sei das Vergnügen, so Hrabal, die schönen Dinge und Geschehnisse in die Erinnerung einfließen zu lassen: denn die Schönheit neige sich und reiche immer zum Transzendenten hin, das heißt zum Endlosen und zur Ewigkeit. 

An anderer Stelle schreibt der altersweise, darum heitere Autor: Zu den geflügelten Schuhen des Lachens passt die letzte Ölung am besten.

Was für ein Glück, in einem Buchladen zu sein! Hier bin ich von den Boten der Ewigkeit umgeben.  (mehr …)

Wimmelbücher und Warnungen

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Gerade habe ich das Paket vom Gerstenberg-Verlag ausgepackt, da greift die Kundin schon zu. Ich muss die Dame allerdings warnen: in dem Frühlings-Wimmelbuch (12,90 Euro), welches Rotraut Susanne Berner mit drolligen Bildern von Menschen und Tieren ausgestattet hat, die bei schönem Wetter unterwegs sind, ihren gewohnten Tätigkeiten nachgehen und sich auch einmal zu lustigen Streichen hinreißen lassen, werden die geltenden AHA-Regeln überhaupt nicht eingehalten; da ist keine Person zu sehen, die sich die Hände wäscht, wir haben es ausschließlich mit Maskemuffeln zu tun und die Menschen bewegen sich nicht mit dem erforderlichen Mindestabstand. 

Der Verlag hat es unterlassen, einen entsprechenden Warnhinweis auf dem Buchdeckel anzubringen! Man kennt doch von anderen Produkten die schwarz umrandeten Aufkleber. 

Ist das noch der Ausnahmezustand? Der neue Duden (Dudenverlag, 28 Euro) kennt schon die Maskenpflicht.

Wir haben uns dem Corona-Regime unterworfen, was obrigkeitsstaatliche Mittel bedeutet, um der Pandemie Herr zu werden. Dann kamen die Kollateralschäden (laut Duden ein Wort aus der Militärsprache). Die Gewerbefreiheit musste beschränkt werden und das Zusammenleben der Generationen vergiftet; wenn ihr heute nicht hübsch ordentlich und fromm bleibt, wurden die Kinder bald belehrt, dann stirbt übermorgen eure Oma im Altersheim. 

Schwarze Pädagogik.

Es erstaunt mich immer wieder, wie gefragt Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter noch ist, ich habe ihn daher immer im Sortiment (Esslinger-Verlag, 8,99 Euro). 

Es fühlt sich alles falsch an. Ich weiß aber auch nicht, was das Richtige ist.

Der Humor ist noch da. Doch die Verzweiflung wächst. 

Die Einbildungen

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Als ob es für einen über Achtzigjährigen ein Leichtes wäre, beugte Bohumil Hrabal sich weit aus dem Fenster, um die Vögel zu füttern, und fiel hinaus. Nein: Er ist aus dem Fenster geflogen, schrieb Péter Esterházy in seinem Nachruf auf den tschechischen Dichter. 

Und Esterházy charakterisierte Hrabal mit dem wundervollen Satz: Über das Bier und über Schopenhauer wusste er gleich viel. So heißt es bei Hrabal (übersetzt von Susanna Roth): Ein mit Firlefanz behangener, vom Jahrmarkt zurückkehrender Säufer ist nicht weniger wert als ein mit Orden und Auszeichnungen bekränzter Gelehrter, der einzig und allein das Verdienst hat, die Vergänglichkeit und Kürze des Lebens wissenschaftlich zu begründen und daraus das Postulat abzuleiten, dass man sich freuen soll, solange man dazu die Zeit hat, und ausflippen, solange es einem Spaß macht.

Worauf ich hinauswill, das ist aus dem Fenster zu rufen, was der Wiener Philosoph Robert Pfaller sagt: Alles, was Menschen große Freude macht, ist rund um ein »als ob« gebaut: Wir laden andere ein, als ob wir unendlich reich wären; wir tanzen, als ob es kein Morgen gäbe. Solchen Einbildungen glauben wir natürlich nicht, aber wir praktizieren sie augenzwinkernd. (Die Einbildungen. Das Zwiespältige. Die Geselligkeit, Picus-Verlag, 12 Euro)

Heute empfehle ich Tee. Doch bald werden die Biergärten wieder öffnen, daran glaube ich.

Zwitschern macht froh

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Eine wissenschaftliche Studie hat kürzlich den Zusammenhang zwischen der Vogelvielfalt und der Zufriedenheit der Menschen untersucht. Da in unserer Welt das Geld zählt, beziffern die Forscher des Senckenberg-Instituts für Biodiversität und Klima das Resultat ihrer Untersuchung wiefolgt: 14 Vogelarten mehr im Umfeld machen mindestens genauso zufrieden wie 124 Euro monatlich mehr auf dem Haushaltskonto, wenn man von einem durchschnittlichen Einkommen in Europa von 1237 Euro pro Monat ausgeht.

Für 10 Euro bekommen Sie ein Buch mit CD, was Ihnen mehr Glück als Verstand verspricht. Prof. Peter Berthold, hochangesehener Ornithologe und Vogelschützer, stellt darin die häufigsten einheimischen Vögel und ausgewählte seltene Arten vor, es handelt sich insgesamt um 51 verschiedene Vogelarten! Berthold erzählt interessante Fakten über jede Art und beschreibt deren Rufe und Gesänge nicht nur, sondern zwitschert die typischen Laute dazu; anschließend ist der echte Vogelgesang zu hören.

Wenn Sie sich also einen Glückszuwachs verschaffen wollen, welcher der Wirkung einer Gehaltserhöhung von 370 Euro entspricht, dann lernen Sie so gut zu zwitschern wie es die Vögel können; am besten auf dem Balkon, wenn Ihnen einer zur Verfügung steht.