Trotz Baustelle geöffnet

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Kettengetriebenene Fahrzeuge sind auf der Bölschestraße unterwegs, aber keine Angst: hier sind keine Panzer, das ist nicht der Krieg. Es handelt sich bei diesen Geräten vielmehr um eine Art von Baggern, welche für die schöpferische Zerstörung sorgen, die der Kapitalismus bedeutet.

Es wird eine neue Erdgas-Versorgungsleitung verlegt und somit sind Tiefbauarbeiten am Straßenrand notwendig, heißt es. Man sieht also, dass wir noch längere Zeit auf die Versorgung mit Gas angewiesen sein werden, um stets komfortable Temperaturen in unseren Wohn- und Geschäftsräumen zu erreichen.

Der Ackermann-Verlag weiß um die Attraktion, welche das Baustellengeschehen für Jung und Alt darstellt; in seine Kollektion preiswerter Wandkalender hat er jetzt auch einen mit 12 Motiven von Bagger & Co. aufgenommen, Sie lesen richtig: im Frühjahr schon ist die Edition für 2024 erschienen! Auch die Adventskalender lassen nicht mehr lange auf sich warten, das ist der kapitalistische Fortschritt: Alles soll jederzeit verfügbar sein für diejenigen, die es sich leisten können. 

Jahrestage

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Ich habe es diesen Monat mit den Schnapszahlen: Am 7. März haben die Abonnenten des leselieber-Newsletters meinen Beitrag zum 77sten Geburtstag von Silvia Bovenschen bekommen, der viel Beachtung hervorgerufen hat. Und heute, da feiert der große Meister der kleinen Form seinen 88sten Geburtstag, also Glückwunsch!, stets stehen seine schmalen Bücher griffbereit im Regal neben der Schnapsflasche.

Ich staune, dass er in der Buchhandlung zu den Bestseller-Autoren gehört! Das meistverkaufte Insel-Büchlein Überraschung! (7 Euro) bringt die besten Sekundenstorys der Welt, also ist Peter Bichsel reichlich darin vertreten: 

Der Lebenslängliche befragt, wie er das aushalte oder mache all diese Jahre im Gefängnis, antwortet: „Weißt du, ich sage mir immer, diese Zeit, die ich hier verbringe, müsste ich draußen auch verbringen.“ 

Das Leben will gelebt werden, und alle Jahrestage, die wir ihm aufdrücken, halten die Zeit wohl nur eine Sekunde an. 

Faschisten allenthalben

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Wenn heute mitten in Berlin eine Demonstration stattfinden wird unter dem Motto, der deutsche Staat solle den Kämpfern in der Ukraine das Geschenk von Kriegsgerät vorenthalten, mit dem diese die von dem als faschistisch verschrieenen Moskauer Regime angetriebenen Invasoren aus ihrem Land zu vertreiben beanspruchten, werden sich wohl auch Mitarbeiter verschiedener Geheimdienste unter den Teilnehmenden tummeln. Es heißt nämlich, die Kundgebung werde von deutschen Faschisten unterwandert, sodass es sich bei der Friedensbewegung um ein Bündnis von ganz links bis rechts handele, das unserer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung gefährlich werden könne.

Faschisten also allenthalben.

Ich finde aber, zu unserer Kultur gehörte die christliche Feindesliebe, und bedaure es selbst, wenn auch jene jungen Männer verrecken müssen, die gerade ihr Überlebensdrang dazu gebracht hat, sich einer verbrecherischen Söldnertruppe anzudienen. Es sind die Armen, die jung sterben.  (mehr …)

Katzen in den Kreml!

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Wladimir Putin habe sich leider nicht so entwickelt, wie wir uns das vorgestellt hätten, habe ich irgendwo gelesen.

Was können wir nun noch unternehmen, um den Tyrannen zu besänftigen?

„Den Menschen geht es immer nur um Ego und Stolz, was zu Konflikten führt. Also wurde jedem höheren Anführer auf der ganzen Welt eine Ninja-Katze zugeteilt. Und jedes Mal, wenn ein Präsident einen dicken Hals bekommt und kurz davor ist, etwas Dummes zu tun … Nun ja, dann tun wir, was Katzen schon immer getan haben. Wir sind süß, setzen uns auf seinen Schoß, schnurren und senken damit seinen Puls, all das, was Menschen entspannt und davon abhält, etwas Unüberlegtes zu tun. Kurz gesagt, ohne uns wäre die Welt das absolute Chaos.“

Also wünschen wir uns, dass nicht der britische Geheimdienst den Konflikt im Osten Europas anheizte, sondern der „ALTEHRWÜRDIGE ORDEN DER INTERNATIONALEN NINJA-KATZEN“, von dem hier (in dem kuriosen Kinderbuch NINJA CAT) die Rede ist, ihn zu befrieden unternähme.

Katzen in den Kreml! Putins zähnefletschende Hunde gehören nach Sibirien verbannt. 

Die Sonne ging auf und sah alles

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Am Mittag des 24. Dezember war ich im Begriff, den Laden zu schließen, da fuhr Herr B. mit seinem Klapprad heran und rief mir die Frage zu, welches Buch ich denn über die Feiertage lesen werde. Ich antwortete: Einen Roman von Sillanpää. Er: Wie sich der buchstabiere? 

S-I-L-L-A-N-P-Ä-Ä !

Frans Eemil Sillanpää lebte von 1888 bis 1964. Ihn in diesen Tagen zu lesen liegt nahe, da der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1939 in seiner finnischen Heimat wegen seiner alljährlichen Rundfunkansprache an Weihnachten nie in Vergessenheit geraten ist. Bei uns ist es Sebastian Guggolz zu verdanken, dass seine Werke in frischem Deutsch wieder greifbar sind.  

„Jung entschlafen“ (Guggolz, 24 Euro), das Buch, das Sillanpää vor hundert Jahren niederzuschreiben begonnen hat, strotzt vor bedrückender Gegenwart. Damals schon hat ein russischer Krieg „so furchtbare Umwälzungen in der ganzen Welt verursacht, dass nichts mehr von dem, was vorher war, erreichbar ist“. Die Wirren der Kämpfe durchdringen zum Ende hin den ganzen Roman und führen zu Tod und Verderben.

Doch hebt das Buch an mit einer Hymne auf das Leben: „Die große Wanduhr schreitet langsam und stetig durch alle Momente des Lebens hindurch, Minute für Minute, durch Fest- und Alltag, durch Windstille und Wind. Jeder, der am Leben ist, muss sie ja doch alle selbst erleben, und über jede Minute muss zumindest insofern Rechenschaft abgelegt werden, dass nach ihr eine weitere beginnt.“  (mehr …)

Schneeflocken zwischen den Seiten

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Ich bin nicht alleine damit, dass die Aufzeichnungen von Peter Handke zu meinen Lebensmitteln gehören.

Und immer noch, wie damals vielleicht mit siebzehn, möchte ich die Seiten eines zu schreibenden Buches füllen mit nichts als Wind und zwischen die Seiten treibenden Schneeflocken

steht irgendwo darin.

Peter Handke ist am 6. Dezember 1942 auf die Welt gekommen, doch sein ewiges Alter ist siebzehn. Wenn Sie auf einer Waldwanderung hinter der Weltstadt einem jungen Mann begegnen, könnte es Peter Handke sein. 

Die Stille

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Die Fabeln von Günther Anders (Der Blick vom Turm, C. H. Beck, 18 Euro) bilden Konstellationen, deren Wahrheit aus dem Hintergrund aufscheint.

DIE STILLE 

„Ist das wahr?“ rief das Kind, als die Mutter das Radio endlich abgeschaltet hatte und im Begriff stand, das Kinderzimmer zu verlassen.

„Was?“

„Dass ihr kein Radio gehabt habt als du klein warst?“

„Natürlich nicht.“

„Und wie Stille hergestellt wird, das habt ihr überhaupt nicht gewusst?“ 

Die Stille zu würdigen bedeutete dem modernen Menschen, der Welt zu entsagen. Sich in der Welt zu befinden, ohne die Stille als solche bewusst sich zu machen: das gibt es nicht mehr.

Es gilt, den Betrieb abzuschalten, um die Stille hereinzulassen. 

Wir können alles außer Südbadisch

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Wenn aus Stuttgart eine Bestellung kommt, dann liefere ich gerne! Nicht nur die in Schwaben Sesshaften, also zum Beispiel der Herr, der dort heute den Bauernkalender auspacken durfte, können sich der Dienstleistung erfreuen, dass ich ihnen Bücher ohne Versandkostenzuschlag liefere: Dies gilt für ganz Deutschland. Eine Ausnahme muss ich, der ich selber aus Schwaben stamme, aber machen: Südbaden betrachte ich als abtrünnig, wer von dort eine Bestellung aufgibt, muss also mit Sanktionen rechnen! 

Niemand hat die Absicht, den Reichstag umzubauen

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Der deutsche Finanzminister hat diese Woche im Bundestag eine skandalöse Äußerung getan: „Aufgrund von finanziellen Sorgen wird in diesem Land in diesem Winter niemand frieren und niemand hungern.“

Niemand — dieses Wort markiert die Abwesenden: Solche Menschen, die, weil sie über kein Geld verfügen, außerhalb der Gesellschaft leben und daher die Umstände schonungsloser erleben als die sogenannte Mitte der Gesellschaft. Seit jeher nehmen sie die Kälte wahr als das, was sie ist. Viele von ihnen werden den kommenden Winter nicht überleben.

Kaum ein Buch ist mir wichtiger als das ethnofiktionale Dokument des Franzosen Marc Augé, seit der Eröffnung der Buchhandlung ist das Tagebuch eines Obdachlosen (Beck, 10,95 Euro) immer in meinem Sortiment. Darin heißt es: „Da ich niemand mehr bin, spüre ich zweifellos intensiver als Leute, die besser gestellt und tiefer in der Stadt verwurzelt sind, die absolute Zufälligkeit meiner Anwesenheit in der Stadt — und fast hätte ich gesagt: auf Erden, aber das wäre allzu metaphysisch …“

Die Obdachlosen sind der Skandal in unserer Wohlstandswelt. Sie ähneln den Krähen, die unsere Straßen bevölkern, und den Waschbären, die unsere Gärten unsicher machen. Sie sind uns Sesshaften unheimlich, aber in Wirklichkeit keine Gefahr für uns. Vielmehr sind sie die gefährdetsten Menschen überhaupt.

Wenn der Winter hart wird, kann man ja das Reichstagsgebäude zur Wärmestube umbauen. Dann wird in dieser Stadt wirklich niemand frieren und niemand hungern müssen. 

Die Lebendigkeit anderer

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Gelesen wird aus „Die Hauptadresse der Wirklichkeit“ (PalmArtPress, 24 Euro). Raimund Petschners Miniaturen handeln vom Zwischenmenschlichen, er beobachtet Lebensäußerungen verschiedener Menschen und setzt sich in Beziehung zu ihnen: 

die eigene Erfahrung als flimmerndes, fragiles Gebilde zwischen Gegebenheit und Möglichkeit artikulieren und dem anbieten, der zu lesen, zu hören Interesse hat; und umgekehrt eine Neugier auf das Leben und die Lebendigkeit anderer — auch anders Gearteter — haben: das wäre Demokratie in ihrem Lebenskern. 

Aus der Lesung entspinnt sich ein Gespräch. Eine teilnehmende Zuhörerin fragt: Wie soll ich mit diesem Buch, in dem jede einzelne Betrachtung andauernd zum Nachdenken und Nachsinnen anregt, je fertig werden? 

Der Autor vermutet: Sie legen es auf den Nachttisch und lassen sich begleiten von ihm durch Wochen und Monate, durch Jahreszeiten, vielleicht durch ein ganzes Jahr!