Wir müssen zurückstecken

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In der westdeutschen Bundesrepublik gab es einen einzigen Bürger-Präsidenten, ich erinnere mich an das kantige Gesicht und die Hornbrille auf den Briefmarken der Siebzigerjahre. Mit Gustav Heinemann verbindet mich der Geburtstag (ich bin natürlich ein paar Jahre jünger) und das Bändchen mit seinen Präsidialen Reden (edition suhrkamp, vergriffen) gehört zu meinem Inventar. 

Die Qualität unseres Lebens in allen ihren Bezügen steht hier zur überprüfenden Erörterung. 

Am 11. April 1972 richtete Gustav Heinemann diese Worte an eine Versammlung der Industriegewerkschaft Metall: 

Das Tempo, das die unsere Luft, das Wasser und die Erde verseuchenden Einflüsse sowie der Abbau lebenswichtiger Rohstoffe angenommen hat, ist erschreckend. Die junge Generation kritisiert mit Recht das Ausmaß unserer Gedankenlosigkeiten. Um der Zukunft derer willen, die unsere Kinder und Enkel sind, müssen wir alle bereit sein anzuhalten und, wo nötig, zurückzustecken. Lebensführung und Lebensstandard der Industrievölker im ganzen können fragwürdig werden. 

Der gläubige Christ fuhr fort: 

Gott hat nicht gesagt, der Mensch solle die Erde ausbeuten. Er hat uns die Erde anvertraut, und wir haben die Pflicht, sie pfleglich zu behandeln, auf dass sie die Lebensgrundlage auch derer bleibe, die nach uns kommen.  (mehr …)

Die Welt in Bewegung

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Es gibt das Unbequeme, dass die Welt ein Ereignis ist. 

Die Blätter aus dem Brotsack, Max Frischs Aufzeichnungen am Beginn des 2. Weltkrieges, finde ich furchterregend. Ich denke daran, dass der Politologe Herfried Münkler neulich gesagt hat, nun sei es endlich angebracht, mit „Worst-Case-Szenarien“ zu rechnen, wenn ich Max Frisch lese: 

Man entsetzt sich über die täglichen Bombenopfer, die wir nur in schwacher Vorstellung sehen, und es erhebt sich der Zweifel, ob es nicht ein ganz anderes Entsetzen ist. Man nimmt es den Dingen, schon dass sie sich bewegen, von Herzen übel. Man empört sich über das Störende, das Entsetzen darüber, dass die Welt nicht ein Bestand, sondern eine Bewegung ist. Empörung ist zuviel gesagt; es ist Ärger. Es ist das vollkommen Hilflose gegenüber dem Ereignis an sich, gegenüber dem Leben schlechthin, gegenüber der Tatsache, dass es nicht nur Geschichte, sondern Geschehen gibt, dass die Welt nicht endlich zu Ende ist. 

Wenn es je ruhige Zeiten gab, so sind sie nun vorbei. Die Bombeneinschläge kommen näher. 

Give Peace a Chance

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Es gab einen Moment des Innehaltens heute, als die Radiostationen überall in Europa das Lied von John Lennon für den Frieden spielten. 

Ich bin und bleibe ein Kriegsdienstverweigerer. Wer zu den Waffen greift, muss sich rechtfertigen, finde ich, nicht derjenige, der die Waffen niederlegt. 

Auch Erich Mühsam hätte heute mitgesungen. Er war vor 120 Jahren ein Friedrichshagener und damals übrigens von keinem Energielieferanten abhängig; seine Behausung war unbeheizt. Wenn die Behörden ihn belangen wollten, machte er sich durch das rückwärtige Fenster davon; hinter dem Haus begann ein Kiefernwald (siehe Der Friedrichshagener Dichterkreis, Antiquariat Brandel, 6 Euro). 

Mit Mühsam war kein Staat zu machen und also auch kein Krieg. 

Wer die Zurückdrängung von Pest- und Choleraseuchen als Sieg der Menschheit bejubele, der könne keinen Krieg der Welt rechtfertigen, schrieb er: „Entweder wollen wir die schicksalsgewollten Auskehrungen unter den Menschen willig tragen, dann ist der Kampf gegen die Bakterien eine Heuchelei, oder wir wollen uns gegen verheerendes Unglück schützen, dann müssen wir den Krieg verhüten wie jede andere Pest.“ (Das seid ihr Hunde wert!, Verbrecherverlag, 19 Euro) 

Man muss den Krieg hassen, wenn man Mensch bleiben möchte. 

Im Rahmen der Meinungsfreiheit

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Es irritiert mich, dass in dem Moment, da in Kiewer Metrostationen Menschen sitzen, deren Wohnhäuser gerade von russischen Luftstreitkräften zerstört werden, hier in Berlin in meine Buchhandlung Menschen kommen, die sich nach Büchern erkundigen, welche ihnen einreden, was für Verheerungen in der Welt das Imperium USA (Westend-Verlag, 25 Euro) angerichtet habe. 

Die Weltbilder sind das eine; daneben stehen die unmittelbaren Erfahrungen.

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur.“  (mehr …)

Ohne viel Blabla

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Wer nicht der kalten Logik der Funktionstüchtigkeit folgt, ist der Mensch, der spielt. 

Was zur Zeit in Peking stattfindet, sollen die Spiele der Olympiade sein, heißt es. In Wirklichkeit ist es eine menschenverachtende Veranstaltung. 

Weltweit verbreitet sind Coronaviren. Ein Athlet, der sich lange Jahre auf den sportlichen Wettkampf vorbereitet hat, muss sich in ein Hotelzimmer einsperren lassen, wenn er das Pech hat, als Virenträger und -überträger herausgefiltert zu werden. 

Es ist Winter, aber es gibt keinen Schnee in China. Auf der glatten Kunstschneepiste begibt sich die Skirennläuferin in größte Verletzungsgefahr. 

Unter russicher Flagge dürfen die Sportler aus Russland nicht antreten, da dieser Staat als Anrührer von Dopingmitteln gilt. Der prominenteste Staatsgast, der bei der Eröffnungsfeier begrüßt wird, ist der russische Präsident. 

Angehörige einer muslimischen Minderheit befinden sich in China in Umerziehungslagern. Länder, die den Islam als ihre Staatsreligion bezeichnen, sind dennoch mit Sportlern in Peking präsent. 

Das Ganze findet ohne Zuschauer statt. Fernsehübertragungen dienen der Verbreitung der sportlichen Konkurrenzen, die aus Werbegeldern multinationaler Konzerne finanziert werden.  (mehr …)

Singen und lachen

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Für das neue Jahr habe ich mir nur zwei Dinge vorgenommen: öfter ein Lied zu singen und viel mehr zu lachen.

Zur Zeit gehe ich morgens mit einem Ohrwurm von ABBA aus dem Haus: The winner takes it all, the loser has to fall. It’s simple and it’s plain. Why should I complain? Darin steckt zwar ein Schmerz, Leben heißt Verluste hinnehmen, doch macht es mich froh: die Neugier bleibt.

Viel gelacht habe ich bei der Lektüre Auf der Suche nach dem verlorenen Glück von Jean Liedloff (1926-2011), dieses Buch ist ein Schatz, der Titel der deutschen Ausgabe (bei Beck für 14 Euro) allerdings oberflächlich; der Wahn vom Glück ist ja eine intellektuelle Anstrengung. Das Buch sollte besser vielleicht „Leben im Einklang mit der Umwelt“ heißen.

Ein gewohntes Maß von Angst wird gerne aufrechterhalten, schreibt die Autorin, kann doch ein plötzlicher Verlust all dessen, „worüber man sich Sorgen machen kann“, eine umfassendere und unendlich viel akutere Form von Angst hervorrufen. Für einen seinem Wesen nach am Rande der Katastrophe beheimateten Menschen ist ein Riesenschritt in die Sicherheit nicht minder unerträglich als die Verwirklichung all dessen, was er am meisten fürchtet. 

Why should I complain? singen ABBA.

Jean Liedloff erzählt die Geschichte einer Freundin, die so durchs Leben stolperte, dass es zum Lachen ist. Diese Geschichte endet mit dem Satz: Als ich das letztemal von ihr hörte, erzählte sie mit der für sie bezeichnenden Fröhlichkeit, sie sei beim Aufräumen nach einer Party aus dem Rollstuhl gefallen und habe sich eines ihrer gelähmten Beine gebrochen.

Herr Bruder Sonne

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Gelobet seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne, welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest. 

In den romanischen Sprachen ist die Sonne von männlichem Geschlecht: Laudato si‘, mi‘ signore, cun tucte le tue creature, spetialmente messor lo frate sole, so heißt der italienische Text von Francesco d’Assisi. Es sind nun allerdings nicht die bescheidenen Franziskaner, sondern die als Buchverleger tätigen Benediktiner von Münsterschwarzach, die mir den Sonnengesang in einer fein illustrierten, sechssprachigen Ausgabe gebracht haben (8 Euro) — eine erbauliche Lektüre an diesem Tag der Wintersonnenwende. 

Dass es Leben auf dieser Erde gibt, so habe ich mir die Erklärung einer Naturwissenschaftlerin gemerkt, dass es also uns Menschen als Geschöpfe dieser Erde gibt, verdanken wir der im Planetensystem wohl einmaligen Konstellation, etwas von den Strahlen der Sonne abzubekommen: so kann uns unsere Schwester, Mutter Erde, singt der Heilige Franziskus, erhalten und vielfältige Früchte und bunte Blumen und Kräuter hervorbringen. 

Vom Schlachten

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Heute vor 75 Jahren tritt Hans Henny Jahnn in einem unversehrten Saal des Hamburger Rathauses auf und hält eine Ansprache, welche mir, seit ich sie vor einigen Jahren in der Zeitschrift SINN UND FORM gelesen habe, nicht mehr aus dem Kopf geht. Der Schriftsteller, Pazifist und Orgelbauer ist 1946 aus dem Bornholmer Exil in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. 

Gibt es eine andere bedeutende Rede, die die Opfer der Jahre 1914 bis 1945 bedauert, die das Leid der Tiere einschließt? Jahnn hält es für seine Pflicht, dass ich als Lebender jener gedenke, die nicht mehr leben, der toten Menschen und der toten Tiere, die in diesen grässlichen Jahren dahingegangen sind.

Mitleid, das die Tiere nicht berücksichtigt, ist kein Mitleid. Mitleid aber ist es, dass diese irdische Welt mit Musik ausgewölbt wurde. Der Kuhhüter ruft die Rinder durch seinen Gesang in den Stall, fährt Jahnn fort. 

Nun meine Bitte: Lesen Sie Am laufenden Band, die Aufzeichnungen aus der Fleischfabrik von Joseph Ponthus. Es gibt Menschen auf dieser Welt die noch nie in der Fabrik und im Krieg waren, schreibt der Autor eindringlich, denn er beneidet sie.

Doch wo kann der Mensch seinen Trost finden, wenn nicht in der Musik: Es gibt den Schlusschor in Bachs Matthäuspassion …

Die 3G-Regel

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Der deutsche Buchhandel interpretiert die 3G-Regel folgendermaßen: Wer nicht mindestens ein Gedicht von Goethe, Gomringer oder Gernhardt aufsagen kann, dem bleibt der Eintritt in das Geschäft verwehrt.

In Sachsen wird die Regel allerdings großzügiger ausgelegt: Dort gelten auch die Gaschnitz und die Galego und natürlich darf man auch mit einem Gästner-Gedicht zur Tür reingommen.

Des gebürtigen Dresdners Lyrische Hausapotheke hat der Atrium-Verlag gerade in einer hübschen handlichen Leinen-Ausgabe geliefert. Darin steht der bedenkenswerte Satz: Wer nicht krank wird, darf für trotzig gelten. 

Noch ’ne Verordnung

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Die neue Coronavirus-Einreiseverordnung des Bundes gilt bereits ab Sonntag, dem 1. August.

Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.

Die Verordnung beinhaltet eine generelle Nachweispflicht für Einreisende unabhängig von der Art des Verkehrsmittels und unabhängig davon, ob ein Voraufenthalt in einem Hochrisiko- bzw. Virusvariantengebiet stattgefunden hat. Personen ab 12 Jahren müssen grundsätzlich bei Einreise über ein negatives Testergebnis, einen Impfnachweis oder einen Genesenennachweis verfügen.

Deutschland ist ein Bundesstaat und so kann jedes Bundesland, auch das von seiner Mauer befreite Berlin, eine Durchführungsverordnung dazu erlassen. Unser Bürgermeister heißt in der Tradition Friedrichs des Großen ganz einfach Müller. Er hat mitgeteilt, dass Einreisende nach Berlin auch dann als genesen gelten, wenn sie ein Eisbein-Essen über sich ergehen lassen. Zum Verzehr darf die Mund-Nasen-Bedeckung entfernt werden. 

Klassisch isst man Eisbein mit Erbspüree, Sauerkraut und viel Senf, heißt es im kleenen Zille-Kochbuch (Bild und Heimat, 9,99 Euro). Wem das nicht schmeckt, der muss in Quarantäne.

Für Veganer besteht übrigens keine Gefahr, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, wie wir von Attila Hildmann wissen (Vegan for Fit, Becker Joest Volk, vergriffen).