Der Schriftsteller setzt sich hin, schreibt seinen Text auf totes Holz, auf dass er da ruhe, gelesen und interpretiert werde, das schon, sich aber ansonsten nicht zu rühren habe. So soll es sein, ist es aber nicht, in Wolf Haas’ neustem Buch. Wie Franksteins Monster löst sich der Text von seinem Schöpfer, macht sich selbstständig, biegt um Ecken, fährt im Fahrstuhl quer über die Seiten, oder verwandelt sich in seitenlange chinesische Schriftzeichen – für den Durchschnittsleser nicht entzifferbar. Aber schön anzusehen! Und sorgt für akademische Schenkelklopfer, wenn beispielsweise er, der Text, dem Autor in Anbetracht eines Philodendrons das Einfügen eines Baumfreunde-Witzes nahelegt, oder sich die Seitenummer auflöst und in die Seite reinschmuggelt.
Das sind aber nicht eitle Spielereien, sondern wesentlicher Teil dieses fein ziselierten, subtil-hinterlistigen neusten Werkes des österreichischen Schriftstellers. Dass der Protagonist, dessen Geschichte von einem Alter-Ego-Schriftsteller niedergeschrieben wird, seinen Vornamen Lee Ben in Benjamin Lee umgewandelt hat, ist bezeichnend. Von den verschiedenen Google-Erwähnungen im Buch ermuntert (so verschachtelt der Roman in seiner Gedankenwelt ist, so fest ist er verankert in der heutigen Lebens- und Erfahrungswirklichkeit), googelt man also „Benjamin Lee“, und findet den Linguisten Benjamin Lee Whorf, und die Sapir-Whorf-Hypothese, wonach die Sprache das Denken formt. Haas präsentiert eine Fortsetzung davon: Sprache, Text formt nicht nur das Denken, sondern kann sich selbstständig vom Schreiber machen und formt sich, bzw. die eigene (Be-)Deutung selber, in munterem Hin und Her mit dem Denken der Leserin, des Lesers.
Wenn man so bei der Lektüre Benjamin Lee durch Liebesgeschichten und Seuchenherde, vom Rinderwahnsinn 1989 bis zur Sprossen-EHEC 2011, folgt, verändert sich immer wieder die „Wahrheit“ über ihn. Ist nun die Burgerverkäuferin von London tatsächlich „die Baum“, die Frau von Benjamin Lee Baumgartner, oder ist es eine andere? Lügt die Mutter wenn sie sagt der Vater sei Franzose, oder wenn sie sagt er sei Indianer gewesen? Wie sehr man auch vor- und zurückblättert, der Text entwischt mit seiner Beweglichkeit einer klaren Deutung. Und macht damit eine leichtfüßige Lebensgeschichte zu einem Kunstwerk, wie man es nicht oft findet.